Nuklearschirm? Nein, danke!

Stellungnahme von ICAN Switzerland zum Bundesratsentscheid gegen den TPNW-Beitritt

Helvetia im Kriegsgetümmel Europas (R. Weiss, 1915. CC BY-NC-ND Militärpostkartensammlung der Bibliothek Am Guisanplatz, Bern)

Am 15. August hat der Bundesrat bekanntgegeben, dass er „zum jetzigen Zeitpunkt von der Unterzeichnung des Kernwaffenverbotsvertrags ab[sieht]”. Was nach einem rein prozesstechnischen Entschluss aussieht, ist in Wirklichkeit eine zutiefst beunruhigende Entwicklung. Der Nichtbeitritt zum Vertrag stellt die humanitäre Tradition und Unabhängigkeit der Schweiz – traditionelle Schweizer Werte und Eckpfeiler unserer Aussen- und Sicherheitspolitik – grundlegend in Frage. Eine Entscheidung solch grosser Tragweite darf der Bundesrat nicht ohne eine vorgängige, öffentliche Debatte treffen.

Der Bundesratsentscheid basiert auf dem Bericht einer Arbeitsgruppe, der vier Argumente für und fünf gegen den Beitritt auflistet. Die Einwände gegen den Beitritt halten einer sachlichen Beurteilung nicht stand. Besonders schockierend: Der Bericht bedauert, dass es der Schweiz im Extremfall verwehrt wäre, „einer Verteidigungsallianz beizutreten, die auf nuklearer Abschreckung beruht“ (S. 12):

  • „Mit einem Beitritt zum TPNW würde sich der Schweiz die Handlungsoption verschliessen, sich im Rahmen solcher Bündnisse explizit unter einen Nuklearschirm zu stellen.“ (S. 7)

Im Klartext bedeutet das: die Schweiz heisst es gut, dass zu ihrer Verteidigung damit gedroht wird, ganze Städte auszulöschen, unterschiedslos hunderttausende Zivilisten zu töten und weite Landstriche über Generationen hinweg zu verseuchen. Dieses Vorhaben muss kategorisch zurückgewiesen werden. Die Androhung eines Massenmordes darf unter keinen Umständen eine „Handlungsoption” für die Schweiz darstellen!

Der Bundesratsentscheid birgt ein erhebliches Reputationsrisiko für die Schweiz

 

  • Das Vorhaben sich unter einen Nuklearschirm zu stellen entzieht der Schweiz jede Glaubwürdigkeit als Fürsprecherin des humanitären Völkerrechts und schadet ihrem internationalen Ansehen massiv. Wie kann sie glaubhaft andere Staaten dazu aufrufen, das humanitäre Recht und die Menschenrechte einzuhalten, und gleichzeitig mit Massenmord an Zivilisten drohen?
  • Der Nichtbeitritt zum TPNW lässt ernsthafte Zweifel an der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz aufkommen und stellt ihren Ansatz des Brückenbauens in Frage. Wenn der Bundesrat seine Entscheidung über den TPNW-Beitritt danach ausrichtet, keinen „Opposititionskurs zu den Kernwaffenstaaten“ einzuschlagen, verspielt er die Glaubwürdigkeit der Schweiz als unabhängige und neutrale Vermittlerin.

Unsere Analyse des Berichts zeigt: Aus heutiger Sicht überwiegen die konkreten, sachlichen Vorteile eines Beitritts die spekulativen Nachteile und Angst vor diplomatischem Druck seitens der Atomwaffenstaaten. Wir fordern deshalb die Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments auf, sich im Oktober für den sofortigen Beitritt zum Atomwaffenverbot auszusprechen – im Einklang mit unserer humanitären Tradition und unserer Unabhängigkeit.

Entscheidende Argumente für den Beitritt zum Atomwaffenverbot

Ausdruck unserer „humanitären Tradition” und „friedenspolitisch motiviert”

Der Schweiz kommt als Depositar der Genfer Abkommen, als Gaststaat des IKRK und aufgrund ihrer humanitären Politik eine Fürsprecherrolle für das Humanitäre Völkerrecht und für humanitäre Werte zu.

Ein Beitritt wäre Ausdruck dieser humanitären Tradition, ihrer Bemühungen für Frieden sowie für die Förderung der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts. (Bericht, S. 9)

„Völkerrechtlich folgerichtig”

Im Vergleich zu anderen Massenvernichtungswaffen besteht völkerrechtlich eine Lücke. Kernwaffen sind die einzige Kategorie von Massenvernichtungswaffen, zu der bisher kein umfassendes Verbotsabkommen besteht.

Die Schweiz unterstützt das grundsätzliche Ansinnen, neben chemischen und biologischen Waffen auch Nuklearwaffen zu verbieten und abzuschaffen. [...]

Der TPNW bekräftigt und ergänzt die bestehenden völkerrechtlichen Verbote und Einschränkungen und statuiert insbesondere die Unvereinbarkeit eines Einsatzes von Kernwaffen mit dem Völkerrecht. (Bericht, S. 9)

„Kontrapunkt zu besorgniserregenden Entwicklungen”

Der TPNW kann als Zeichen gegen die stärkere Gewichtung von Kernwaffen, deren laufende Modernisierungen und ein erneut drohendes Wettrüsten verstanden werden. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer jüngst besorgniserregenden Zunahme der Rhetorik über den Gebrauch von Kernwaffen. (Bericht, S. 9)

„Volkswirtschaftlich vertretbar”

Wirtschafts-, energie- und forschungspolitisch dürfte ein Beitritt zum TPNW vertretbar sein, weil die diesbezüglichen Schweizer Interessen nach heutigem Kenntnisstand vom Vertrag nicht betroffen scheinen. (Bericht, S. 9)

Gemäss der derzeit erwarteten Auslegung des Unterstützungsverbots, die nicht über die gegenwärtige Schweizer Rechtslage und –praxis hinauszugehen scheint, wären durch einen TPNW-Beitritt keine Anpassungen notwendig und die bestehende Bewilligungspraxis könnte beibehalten werden. Diesbezüglich wäre mit keinen wirtschaftlichen Konsequenzen zu rechnen. (Bericht, S. 8)

Die Gegenargumente des Bundesrates ziehen nicht

Ein „deklaratorisches Abkommen” mit „kaum Abrüstungseffekten”

Im Bericht wird die Befürchtung geäussert (S. 9), der TPNW könnte kaum Abrüstungseffekte haben, da die Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten dem Vertrag auf absehbare Zeit nicht beitreten werden. Der TPNW wird als „deklaratorisches Instrument” (S. 4) bezeichnet.

Dabei weiss die Schweiz ganz genau - das EDA hat Studien zum Thema finanziert - dass die Ächtung von Nuklearwaffen durch ein völkerrechtliches Verbot dazu beiträgt, Waffen als Instrumente der Sicherheitspolitik zu delegitimieren und zu entwerten, was Abrüstungsfortschritte begünstigt, wie etwa der Politikwissenschaftler Nick Ritchie aufzeigt. Auch Völkerrechtler Manfred Mohr bezeugt dem TPNW positive „Delegitimierungseffekte […] unabhängig von einer Vertragsmitgliedschaft der Kernwaffenstaaten”.

Der Bericht hält selbst fest:

Der TPNW könnte über die Zeit einen Beitrag zu einer normativen Wirkung leisten und das «Tabu» des Einsatzes von Nuklearwaffen stärken. (S. 9)

Ausserdem hat der Bundesrat dem Parlament gegenüber erklärt, dass zur Erreichung einer nuklearwaffenfreien Welt, ein Verbot von Nuklearwaffen notwendig sei, und dass das Atomwaffenverbot grundsätzlich zentralen Interessen und traditionellen Werten der Schweiz […], namentlich ihren Sicherheitsinteressen, entspreche.

Nach seinem Inkrafttreten wird der TPNW eine international anerkannte Norm darstellen. Unabhängig davon, ob die Nuklearwaffenstaaten dem Vertrag beitreten oder nicht, ermöglicht es diese Norm den Druck, Abrüstungsfortschritte zu erzielen, konstant aufrechtzuerhalten. Genau diese normative Wirkung macht die Nuklearwaffenstaaten so nervös. Der Bericht selbst beschreibt diese Wirkung folgendermassen:

Der TPNW setzt in diesem Sinne einen Kontrapunkt gegen steigende Nuklearrisiken und die stärkere Gewichtung von Nuklearstreitkräften, signifikante Modernisierungsanstrengungen sowie ein erneut drohendes Wettrüsten. (S. 4)

„Infragestellung des Schweizer Ansatzes des Brückenbauens”

Im Bericht wird behauptet, die „Ächtung der Kernwaffenstaaten” dürfte die Polarisierung in der Abrüstungsdiplomatie weiter verschärfen, was Abrüstungsfortschritte erschweren könnte. Das Vorgehen der Stigmatisierung ohne Einbezug zentraler Staaten entspräche nicht dem Schweizer Ansatz, wonach die Abrüstung „mit und nicht gegen“ Kernwaffenstaaten erfolgen sollte, so der Bericht.

Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen: Es geht nicht darum, die Staaten zu ächten, sondern die Waffen. Dieses Missverständnis führt zu einem Widerspruch im Bericht. Einerseits kritisiert er, dass der TPNW vermeintlich Staaten stigmatisiere. Andererseits führt er die Stigmatisierung der Waffen korrekt als Grund für den Beitritt an:

Der TPNW könnte über die Zeit einen Beitrag zu einer normativen Wirkung leisten und das «Tabu» des Einsatzes von Nuklearwaffen stärken. (S. 9)

Der im Bericht oft wiederholte Vorwurf der Polarisierungsverschärfung basiert nicht auf einer sachbezogenen Analyse.

  • Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass der Beitritt der Schweiz zum TPNW die bestehende Polarisierung verschärfen würde.
  • Die Polarisierung ist nicht die Schuld des TPNW. Sie besteht laut Bericht „bereits seit einiger Zeit” (S. 4).
„Sicherheitspolitisch riskant”

Laut Bericht würde der Schweizer Beitritt zum Atomwaffenverbot in Opposition zur sicherheitspolitischen Ausrichtung wichtiger Partner der Schweiz stehen, was negative Auswirkungen auf bilaterale Streitkräftebeziehungen und die Kooperation mit Nato-Staaten im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP) haben könnte.

Der Bericht liefert allerdings keine Anhaltspunkte für diese Befürchtung. Im Gegenteil:

  • Der Bericht hält ausdrücklich fest (S. 7) dass die konventionelle Verteidigung vom TPNW nicht betroffen ist.
  • Der TPNW-Beitritt von Neuseeland hat seiner Beziehung zur Nato keinen Abbruch getan. Die Erfahrung von Österreich, ein neutrales Land wie die Schweiz, das den TPNW ratifiziert hat, zeigt: bilaterale Streitkräftebeziehungen wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen. Auch die Schweiz soll souverän entscheiden!
  • Die Arbeitsgruppe erwartet vom TPNW lediglich eine „eingeschränkte Wirkung”. Wie kann sie dann gleichzeitig annehmen, der Schweizer Beitritt könnte „enge bilaterale Beziehungen” gefährden?

Ausserdem wird im Bericht gemutmasst, der  TPNW könnte seine (laut Arbeitsgruppe „eingeschränkte”) Abrüstungswirkung vorerst in westlichen Nuklearstaaten und ihren Bündnispartnern enfalten aufgrund ihrer liberal-demokratischen Orientierung mit ausgeprägten Zivilgesellschaften und kritischer Öffentlichkeit und sie dadurch militärisch schwächen.

Diese Argumentationslinie ist anti-demokratisch und absolut fehl am Platz in einem Bericht der Bundesverwaltung. Es ist nicht mit dem Schweizer Demokratieverständnis zu vereinbaren, eine ausgeprägte Zivilgesellschaft und kritische Öffentlichkeit als Sicherheitsrisiko darzustellen.

Zur Erinnerung:

Chef in unserer Demokratie sind wir Bürger. […] damit [der Staat] nicht zum bürokratischen Selbstläufer wird, muss die Macht beim Volk bleiben. Wir Bürger zusammen sind der Souverän, also die oberste Instanz. Wir haben das letzte Wort. Nicht die Verwaltung, nicht Juristen oder Funktionäre. (Bundesrat Ueli Maurer, 2001)

Des Weiteren unterläuft es die Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik der Schweiz, Nuklearwaffen eine sichernde Wirkung zuzuschreiben. Wie kann die Schweiz von anderen Staaten erwarten, keine Nuklearwaffen anzuschaffen und deren Rolle in Sicherheitsdoktrinen zu schmälern, wenn sie ihnen solch positive Eigenschaften attestiert?

„Nebenwirkungen” auf NPT, Verifikation unklar

Laut Bericht enthält der TPNW zahlreiche Bestimmungen, deren Auswirkungen heute nur vorläufig abgeschätzt werden können, unter anderem sein Verhältnis zum NPT und dem Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT).

  • Der TPNW und der NPT sind miteinander kompatibel und verfolgen dasselbe Ziel: eine Welt ohne Nuklearwaffen. Der TPNW ist eine Umsetzungsmassnahme der NPT-Bestimmung, die alle Staaten zu Abrüstungsverhandlungen verpflichtet (Art. VI). Ausserdem verankert der TNPW den NPT explizit in seiner Präambel. Damit stärkt der TPNW den NPT.
  • Die Präambel des TPNW hebt die Wichtigkeit des CTBT und dessen Verifikationsregime als Kernelement des nuklearen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes besonders hervor. Ausserdem ist die Ächtung von Nuklearwaffentests Teil der Verbote, die im ersten Artikel des Vertrags aufgelistet sind.

Im Bericht wird auch behauptet, der TPNW setze veraltete Verifikationsstandards als Minimalstandard fest. Mit der Anprangerung dieser vermeintlichen Schwäche des Vertrags übernimmt der Bericht die Rhetorik der USA.

Der Vorwurf hält einer juristischen Prüfung nicht stand:

Der Vorwurf ist politisch fehlgeleitet und entbehrt einer sachlichen Grundlage:

  • Genau wie der TPNW verzichtet auch der NPT darauf, das IAEA Zusatzprotokoll als  Standard für die Verifikation vorzuschreiben. Würde dies den Bundesrat veranlassen aus dem NPT auszutreten? Der TPNW ist nicht schuld daran, dass es die NPT-Vertragsstaaten seit den 1990er Jahren nicht geschafft haben, den Standard des IAEA-Zusatzprotokolls universell durchzusetzen.

Der Bericht selbst hält übrigens fest :

Es ist zu begrüssen, dass der TPNW keine eigenen Verifikationsmassnahmen für die Einhaltung seiner Verbote schafft. Dadurch wurden Doppelspurigkeiten verhindert. Ebenfalls ist positiv zu vermerken, dass unter dem TPNW die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags angewendeten Verifikationsinstrumente als Minimalstandard weitergeführt werden müssen. (S. 4)

„Bisher geringe Unterstützung des Vertrags”

Der Bericht erwähnt, dass der TPNW „deutlich geringere Unterstützung im westlichen Lager als in anderen Weltregionen” (S. 10) geniesse.

Das ist nur die halbe Wahrheit:

  • Die deutliche Mehrheit aller Staaten ist für den TPNW und wird ihm beitreten. 122 Staaten haben den Vertrag im Juli 2017 an der UNO angenommen. 69 Staaten haben ihn schon unterzeichnet und 19 ratifiziert (Stand, 28.09.2018). Aus ihrer Sicht verliert die Schweiz durch ihr Abseitsstehen und ihre Ausrichtung an den Atommächten ihre Glaubwürdigkeit als neutrale Vermittlerin. Dies stellt den Schweizer Ansatz des Brückenbauens in Frage.
  • Unsere Nachbarn Liechtenstein und Österreich haben den TPNW bereits unterzeichnet, beziehungsweise, ratifiziert.
  • Laut aktuellen, repräsentativen Umfragen ist die überwiegende Mehrheit der europäischen Bevölkerung - 71% der Deutschen und 72% der Italiener für den TPNW-Beitritt.

Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis der TPNW in Kraft tritt. Die Schweiz kann es sich nicht leisten, abseits zu stehen. Ausserdem trägt sie aufgrund ihrer Fürsprecherrolle für das humanitäre Völkerrecht eine besondere Verantwortung, ein klares Signal gegen Atomwaffen zu senden.

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